Zweifel machte Pommes-Chips zu einem Schweizer Nationalgericht. Trotzdem forscht die Firma an immer neuen Typen. Warum?
Vor einem halben Jahrhundert brachte Zweifel die Pommes-Chips in die Schweiz. Damals wusste noch niemand, dass bald das ganze Land danach süchtig sein würde.
Eine der letzten grossen Erfindungen aus dem Haus Zweifel schmeckt nach Heimat und dauerte so lange wie eine Schwangerschaft. Neun Monate lang brüteten sechs Geschmacksforscher und Marketingspezialisten über einer schwierigen Frage: Wie können wir aus einem kleinen, millimeterdünnen Ding, das sich die Amerikaner schon im vorletzten Jahrhundert ausgedacht haben, wieder etwas Neues machen? Die Experten lasen Trendstudien und probierten Rezepte aus; mehr als 500 Stunden überlegten sie, was den Kunden schmecken könnte. Dann waren aus der Idee neue Kartoffelchips geboren: Sie nennen sie Poulet im Chörbli, Pommes-Chips, die nach Güggeli, Rosmarin, Thymian und Kindheitserinnerungen riechen. Ein Geschmack, der sagt: Alles ist gut, die Welt ist in Ordnung. Comfortfood heisst solche Nahrung, ein Trostessen in unsicheren Zeiten.
Als Poulet im Chörbli im Sommer 2021 in die Supermärkte kommt, ebbt die Corona-Pandemie gerade ab.
Jede Zeit hat ihre Chips und jedes Land seine eigenen. Über 1000 Geschmacksrichtungen gibt es auf der Welt, und jedes Jahr werden es mehr. Vor sechzig Jahren kannte Zweifel nur eine einzige Sorte: Nature. Inzwischen sind es fünfzig. Eine frittierte Kartoffelscheibe ist wie ein Chamäleon, das jedes Aroma annehmen kann.
In der Laborküche von Zweifel haben sie Chips schon so gewürzt, dass sie nach Landjäger oder «Bacon and Eggs» schmecken, und an Sorten herumgetüftelt, die wie Caipirinha oder Red Bull duften. Zwei bis drei Zweifel-Chipssorten kommen jedes Jahr neu in die Regale der Supermärkte.
Wie kommen die Produkteentwickler dauernd auf neue Ideen? Und wie schaffen sie es, immer wieder Begehrlichkeiten für ein kleines Ding zu wecken, das eigentlich niemand braucht? Hinter diesen Fragen stecken ein paar gut gehütete Geheimnisse, verblüffende Experimente und viel Wissen darüber, was die Schweiz für ein Land ist und warum die Menschen essen, was sie essen.
Man könnte meinen, Chips herzustellen sei ganz einfach: man schält eine Kartoffel und wirft die Scheiben in heisses Öl. Doch es ist viel komplizierter. Die Leute nur schon auf den Geschmack zu bringen war ein hartes Stück Arbeit.
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Die Verschweizerung der Chips
Dass die Menschen in der Schweiz Pommes-Chips überhaupt mögen, mussten sie erst lernen. Der Mann, der es ihnen beigebracht hat, heisst Hansheinrich Zweifel, Lebensmittelagronom und Unternehmensgründer der Pomy-Chips AG.
Als die Firma Zweifel, ursprünglich eine Mosterei, Ende der fünfziger Jahre im zürcherischen Höngg begann, Pommes-Chips zu produzieren, wusste in der Schweiz niemand, was das ist. Die Leute assen, wie es sich gehört, mit Messer und Gabel und sicher nicht mit den Händen aus einer Plastikpackung. Kartoffeln verspeisten sie als Gschwellti, Rösti oder Herdöpfelstock, aber nicht als frittierte Scheiben.
Die Idee, aus den Schweizern Chipsesser zu machen, hatte sich Hansheinrich Zweifel Ende der 1950er Jahre während seiner Hochzeitsreise in den USA abgeschaut. Die Flitterwochen verband er mit einer Geschäftsreise.
Einer Legende nach waren die ersten Chips in Amerika 1853 in einem Restaurant in Saratoga Springs im Bundesstaat New York erfunden worden, als einer Köchin eine Kartoffelscheibe in heisses Öl gefallen war. Aus diesem Zufall wuchs seit den 1920er Jahren eine gigantische Industrie heran. Mechanische Kartoffelschäler, hundert Meter lange Förderbänder und riesige Ölwannen standen in Fabrikhallen. Nachdem eine amerikanische Unternehmerin eine Tüte aus Wachspapier erfunden hatte, mussten die Chips nicht mehr in Holzfässern transportiert, sondern konnten leicht im ganzen Land in die Läden verteilt werden. Am Anfang befand sich in den Packungen nur ein kleiner Beutel Salz, um die Chips von Hand zu würzen. Erst später wurden sie in rotierende Trommeln gesteckt und mit Gewürzen besprüht.
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Dieser Artikel stammt aus dem NZZ Folio vom 6. November 2023 zum Thema «Wir Konsumenten». Sie können diese Ausgabe einzeln beziehen oder das Heft abonnieren.
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Hansheinrich Zweifel besuchte während der Hochzeitsreise in Amerika 15 Fabriken, um alles über Chips zu lernen. Er importierte Maschinen und liess sich von der amerikanischen Werbeindustrie inspirieren, die gerade damit begonnen hatte, mit Fernsehwerbung Emotionen zu verkaufen. Früher hatte Werbung den Zweck, ein Produkt zu erklären. Jetzt zeigten die TV-Bilder Kinder und Ehepaare, die in Pommes-Chips bissen und glücklich dabei aussahen.
Der Zeitgeist half Zweifel, seine Chips zu verkaufen. Aus den USA schwappte nach dem Zweiten Weltkrieg der American Way of Life auch in die Schweiz. Er brachte nicht nur den Rock ’n’ Roll und die Bluejeans, sondern auch neue Essgewohnheiten.
Die Menschen hatten mehr Freizeit und waren wohlhabender, Essen wurde zum Lifestyle. Ausserdem waren immer mehr Frauen berufstätig und verbrachten weniger Zeit in der Küche, Kochen musste schnell gehen.
Es begann der Boom des Convenience-Food, mit Büchsenravioli und Tiefkühlpizzas. Kartoffelchips passten genau in die Zeit. Zweifel richtete seine Werbung direkt an die Hausfrauen. Er schlug ihnen zum Beispiel vor, ein Fertigpoulet vom Grill mit Pommes-Chips zu kombinieren. Das war eine revolutionäre Idee. Nirgendwo auf der Welt wurden Chips als Beilage zu einem Fleischgericht gegessen. Überall sonst waren sie ein Snack für Partys oder zum Apéro.
Zweifel gelang es, das Chipsessen zu verschweizern. Schon früh schaltete die Firma Werbung in der Armeefachpresse, etwa im «Militärküchenchef», und zeigte Bilder von Kompanieabenden, wo die Soldaten Zweifel-Chips verputzen. Patriotischer konnte eine Reklame nicht sein.
Es ist eine der erstaunlichsten Wirtschaftsgeschichten der Schweiz, wie Pommes-Chips zu einem Nationalgericht wurden und Zweifel zu einer Marke, die jedes Kind kennt. Heute stammt jede zweite Chipstüte in der Schweiz von der Firma, 80 Millionen Packungen verkauft sie jedes Jahr. Die Zweifels gehören zu den reichsten Familien des Landes.
Den Schweizern etwas zu verkaufen, was sie nicht kannten, war ein Coup. Noch schwieriger ist es, ihnen immer wieder von neuem etwas schmackhaft zu machen, was sie nun schon seit über 60 Jahren essen.
Hansheinrich Zweifel war der Pionier, der die Schweiz zu einem Chipsland machte; sein Sohn Christoph muss mit neuen Ideen dafür sorgen, dass das so bleibt. Christoph Zweifel, 54jährig, ist seit Sommer 2020 CEO der Firma, der erste aus der Familie Zweifel seit 29 Jahren. Er studierte an der ETH Lebensmittelwissenschaften, arbeitete für das Konsumgüterunternehmen Unilever und die Grossbäckerei Hiestand und kümmerte sich um Eistee oder Gipfeli. Als er den Chefposten von Zweifel übernahm, wusste er, was von ihm erwartet wurde. Christoph Zweifel sagt: «Der Innovationsmotor muss immer rattern.»
Seine Firma muss also erfinderisch sein. Heutzutage behauptet jedes Unternehmen, es sei innovativ. Keines würde sagen, es sei einfallslos und ideenarm. Was Innovation genau ist, beschrieb der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter vor über 100 Jahren. «Neues zu tun. Oder etwas auf neue Weise zu tun, was bereits getan worden ist.»
Jedes Jahr 200 neue Rezepte
Poulet im Chörbli ist eines der letzten Beispiele in einer langen Reihe von Erfindungen, die nicht wirklich neu sind, sondern nur so aussehen. Als Christoph Zweifel zum ersten Mal von der Idee für den neuen Geschmack hörte, war er skeptisch und sagte zu seinen Produkteentwicklern: «Liebe Leute, das ist doch keine Innovation. Chips mit Pouletgeschmack haben wir schon Ende der 1970er Jahre hergestellt.»
Noch ahnte er nicht, dass aus Poulet im Chörbli eine Erfolgsgeschichte werden wird, die er bald «Blockbuster» nennt.
Jedes Jahr entwickeln die Aromatiker bei Zweifel 200 Rezepte und bringen zwei bis drei neue Produkte auf den Markt, der voll ist mit Kartoffelchips. Sie dachten sich schon Chips aus, die kleinen, tanzenden Figuren glichen, sie versteckten Spielzeuge in den Packungen, machten wellenförmige Scheiben, dickere und fettarme und solche aus Kartoffelpulver, die man in Dosen stapeln konnte. Sie bastelten an Verpackungsdesigns und gaben den Chips trendige Namen wie Inferno, JouxJoux oder Joy.
Aber nicht nur die Experten denken über Erfindungen nach. Bei Zweifel finden regelmässig Ideenwettbewerbe statt. Einmal hatte ein Mitarbeiter aus der Finanzbuchhaltung den Einfall für Marshmallow-Chips. Christoph Zweifel war begeistert und liess das Produkt designen. In die Läden kam es nie.
Es gibt nichts, woran man nicht herumtüfteln könnte. Eine deutsche Snackfirma fragte die europäische Weltraumbehörde Esa um Rat, um die Flugeigenschaften der Chips beim Abfüllen in die Packung zu testen, damit sie nicht zerbrechen; andere Unternehmen arbeiteten mit Sounddesignern zusammen, um die Chips akustisch aufzupeppen. Im Musiklabor rechneten die Ingenieure aus, wie laut die Knackgeräusche sein müssen, damit die Snacks bei den Konsumenten am besten ankommen. Sie fanden heraus: Wenn die Chips genau bei 276 Millibar Druck brechen, dann klingen sie am verlockendsten.
Dass sich das Geräusch eines Chip tatsächlich auf unser Essverhalten auswirkt, zeigte ein Experiment des Biotechnologen William E. Lee von der Universität Südflorida: Versuchsteilnehmer, die Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung trugen, verspeisten einen Drittel weniger Chips als die, die das Knacken hören konnten. Es ist auch kein Zufall, dass Snacks in geräuschvollen Tüten verkauft werden. Wenn die Verpackung beim Hineingreifen raschelt, langen wir lieber zu. Offenbar hat unser Gehirn Schwierigkeiten, Produkt und Packung voneinander zu unterscheiden. Hauptsache, es knistert. Dann essen wir mehr.
Darum geht es bei jeder neuen Erfindung: die Menschen zum Chipsessen zu verführen. 2,2 Kilogramm Snacks essen die Schweizer pro Jahr, die Amerikaner zehn Mal so viel. Es könnten also auch bei uns viel mehr Menschen noch mehr Chips verzehren.
Erfindungen und Stoppschilder
Früher verlief die Produkteentwicklung eher zufällig. Wenn dem Chef oder seiner Frau ein Snack schmeckte, hoffte man, dass er auch bei den Kunden ankommen würde. Heute funktioniert das Verfahren ganz anders. Wenn irgendwo auf der Welt ein neuer Snack auf den Markt kommt, wissen sie das bei Zweifel. Die Firma hat Zugang zu einem globalen Online-Trackingsystem. Dank der Software verpasst Zweifel keinen Trend und keine Idee. Und wenn die Experten inspiriert worden sind, können sie einen Plan aus der Schublade ziehen.
Das Geheimnis, wie man erfolgreich ein Produkt erfindet, haben die Amerikaner Robert Cooper und Scott Edgett schon in den 1980er Jahren in berühmten Marketingbüchern festgehalten. Seither orientieren sich Firmen auf der ganzen Welt am sogenannten Stage-Gate-Modell. Die Idee dahinter ist einfach: Weil es lange dauert, bis eine neue Ware erfunden ist, und auf dem Weg viele Fehler lauern, zerstückelt man den Entwicklungsprozess in Etappen und baut Gates ein. Gates funktionieren wie Stoppschilder.
Auch bei Zweifel halten sie sich an die Formel. Alle paar Wochen sitzen die Entwickler, die Marketingleute und die Abteilungschefs zusammen und fragen sich: Finden wir die Idee noch gut? Klappt der Businessplan? Gibt es technische Probleme? Sind die Grossverteiler Migros oder Coop einverstanden, die neuen Snacks ins Sortiment zu nehmen? Je nach Antwort wird das Projekt weiterverfolgt oder eben nicht. Abgestimmt wird an den Sitzungen nicht. Es wird so lange diskutiert, bis sich alle einig sind. Auch der Chef Christoph Zweifel hat kein Vetorecht. Dutzende Ideen bleiben jedes Jahr in diesem Prozess stecken. Poulet im Chörbli schlüpft durch alle Gates.
Das schwierigste Problem für einen Chipshersteller steht in keiner Marketingbibel: Das Schwierigste ist, den Massengeschmack in einem Land zu treffen. Er ist überall anders. In Skandinavien mögen sie Chips mit Dillgeschmack, in Japan solche mit Meeresalgenaroma. Um herauszufinden, was die Leute mögen, macht man am besten eine Art Volksabstimmung. Bevor Zweifel Poulet im Chörbli lancierte, stimmten über 30000 Konsumenten auf Facebook in einer Onlinewahl für die Idee. Sie bestätigten damit, was die Marketingexperten bei Zweifel schon lange wussten: Schweizer Nostalgieessen liegen im Trend. Poulet im Chörbli, ein Sonntagsgericht aus den 1960er Jahren, schien dem Zeitgeist am besten zu entsprechen.
Wenn sich die Gesellschaft verändert, reagiert Zweifel mit neuen Produkten. Als die Schweizer gerade ihre Vorliebe für fremde Geschmäcker und exotisches Essen wie Riz Casimir entdeckten, kamen 1964 Paprikachips auf den Markt; als Italien und Südfrankreich beliebte Ferienziele wurden, standen Pizzachips und die Sorte Provençale in den Gestellen.
Aber nur weil ein Chip in die Zeit passt, heisst das noch nicht, dass es schmeckt. Auch Poulet im Chörbli musste zuerst getestet werden, nicht nur von Experten, sondern auch von gewöhnlichen Chipsessern, die im eigenen Haus arbeiten.
Probeesser vor dem Computer
500 Mitarbeiter sind bei Zweifel angestellt, 100 von ihnen haben ein Profil, in dem steht, was für ein Chipskonsument sie sind: gesundheitsbewusst, jung, alt, experimentierfreudig, konservativ. Bevor ein neues Produkt lanciert wird, bekommen die Angestellten ein Müsterchen mit ein paar Chips und einen Link für eine interne Online-Umfrage. Damit sie sich nicht gegenseitig beeinflussen, sitzen sie allein vor dem Computer, probieren die Snacks und geben Noten von 1 bis 10. Wie fühlen sich die Chips auf der Zunge an? Duften sie gut? Sind sie genug gewürzt? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie sie im Laden kaufen würden?
Poulet im Chörbli bekommt bei der Präsentation die Gesamtnote 9. Jetzt wissen die Entwickler, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Bei der ersten Degustation essen die Angestellten nur ein paar wenige Chips. Bei einer zweiten einen ganzen Sack voll, um zu prüfen, ob sie auch dann noch schmecken und es keinen Übersättigungseffekt gibt. Nach dem zweiten Probeessen zeigt sich: Vielleicht müssen die Aromatiker ein bisschen mehr Salz hinzufügen und etwas weniger Knoblauch nehmen. Aber der Geschmack kommt an.
Eigentlich soll Poulet im Chörbli nur zwei Monate während der Fussball-Europameisterschaft 2021 als «limited Edition» in den Regalen stehen. Dann verkauft sich die Sorte so gut, dass Zweifel sie im Sortiment lässt. Mit einem derart durchschlagenden Erfolg hatte keiner im Unternehmen gerechnet.
Es kommt immer wieder vor, dass sie bei Zweifel selber staunen, wann sie einen Geschmacksnerv treffen und wann nicht. Ketchup-Chips mochten die Schweizerinnen und Schweizer nicht, «Salt and Vinegar» war ihnen am Anfang zu britisch und zu sauer, erst ab dem Jahr 2010 gewöhnten sie sich an den Goût. Poulet im Chörbli aber schmeckt ihnen vom ersten Tag an. Bei den klassischen Chips ist die Sorte nach Paprika, Nature und «Salt and Vinegar» heute die viertbeliebteste. Dass ein neuer Geschmack so populär wird, ist selten.
Tiefkühllasagne von Colgate
Man kann forschen, Trends analysieren und so viele Kundenbefragungen und Testessen durchführen, wie man möchte: Ob etwas auf dem Markt funktioniert, sei wie ein Blick in die Glaskugel, sagt Christoph Zweifel. «Auch wenn wir ein gutes Bauchgefühl haben und uns an alle Regeln im Lehrbuch halten: Wir können trotzdem auf die Nase fallen.» Scheitern ist sogar sehr wahrscheinlich.
Wissenschafter aus Toronto haben berechnet, dass die Durchfallquote von neuen Lebensmitteln bei 80 Prozent liegt. Obwohl die Firmen Unmengen Geld für Werbung und Marktforschung ausgeben, um zu verstehen, was ihre Kunden wollen, verschwinden die meisten neuen Esswaren nach zwei Jahren wieder aus den Supermärkten.
Im Museum of Failure steht die ungewöhnlichste Sammlung misslungener Produkte. Der Psychologe Samuel West gründete es 2017 und reist seither mit seiner Wanderausstellung um die Welt. Sie zeigt zum Beispiel Tiefkühllasagne, die niemand kaufen wollte, weil sie vom Zahnpastahersteller Colgate stammten; oder Crystal Pepsi, das aussah wie Wasser, einen gesunden Lebensstil versprach, aber keiner trinken mochte; ein Flop war auch der Arch Deluxe, ein Hamburger von McDonald’s mit einem «erwachsenen Geschmack». Die Zutaten wurden als «hochwertiger und exquisiter» angepriesen als bei gewöhnlichen Burgern. 300 Millionen Dollar investierte McDonald’s in die Marktforschung. Doch der Arch Deluxe erwies sich als einer der teuersten Fehlschläge in der Fastfoodbranche.
Auch Zweifel hat eine Geschichte verunglückter Ideen. In den 1960er Jahren brachte die Firma den Goldkeks auf den Markt, einen kleinen Schokoladencake, der häufig schimmlig wurde. Später wollte man Donuts einführen, aber die Kunden reagierten schlecht darauf. In seinem Buch «Chipsgeschichten» schreibt Hansheinrich Zweifel: «Der Schweizer Markt war dafür nicht bereit. Die Donuts liessen sich hierzulande nicht verkaufen. Die Gründe begriff ich eigentlich nicht.»
Auch in jüngster Vergangenheit verschwanden mehrere Chipssorten nach wenigen Jahren wieder aus den Läden: Was Piripiri sein sollte, verstanden die Schweizerinnen und Schweizer nicht. Piripiri ist die portugiesische Bezeichnung für Chilischoten und kam nicht an. In die Hofladen-Chips mischten die Erfinder blaue und helle Kartoffeln, bei der Sorte Secret versuchten sie es mit Chips und getrocknetem Gemüse. Beide Produkte erfüllten die Erwartungen nicht und verschwanden wieder aus den Läden. Im schlechtesten Fall dauert es nur ein halbes Jahr, und eine Neuheit wird wieder eingestellt.
Auf lange Sicht würden auch bei ihnen acht von zehn Erfindungen scheitern, sagt Christoph Zweifel. «Aber irgendwann kommt vielleicht der Lottosechser.»
Wenn sich das Gehirn langweilt
Warum machen sich die Zweifel-Mitarbeiter überhaupt die Mühe, sich immer wieder neue Produkte auszudenken, wenn die alten doch so beliebt sind? Paprika und Nature sind seit über 60 Jahren die Lieblingschips der Schweizer. Aber in den Marketingbüchern steht: Wer nicht erfinderisch ist, den bestrafen die Konsumenten; wer nicht mit Neuheiten im Gespräch bleibt, den vergessen sie; und wer nicht kreativ ist, verpasst vielleicht etwas und wird von der Konkurrenz überholt. Doch es steckt noch etwas anderes dahinter. Lebensmittelforscher nennen es das sensorische Sättigungsgefühl.
Wenn wir von einem Nahrungsmittel viel gegessen haben, signalisiert unser Gehirn irgendwann: Ich bin gelangweilt, ich möchte etwas anderes. Das lässt sich evolutionsgeschichtlich erklären. Hätten unsere Vorfahren vor zehntausend Jahren immer nur Bisonfleisch verzehrt und nie Beeren oder Knollen probiert, wären sie an Mangelernährung gestorben. Den Instinkt, nach einem neuen Geschmack, einem neuen Duft oder Aroma zu suchen, haben wir uns bis heute bewahrt.
Nun fragen sich die Marketingspezialisten, was das für ihre Produkte bedeutet. In einem Experiment aus dem Jahr 2007 durften 35 Amerikaner so lange Chips essen, bis sie keine Lust mehr hatten. Die Versuchsteilnehmer, die verschiedene Sorten zur Auswahl hatten, nahmen bis zu 20 Prozent mehr Chips zu sich als die, die nur ein Aroma vorgesetzt bekamen. Auch deshalb investiert die Chipsindustrie weltweit jedes Jahr Hunderte Millionen in Neuheiten, bei Zweifel sind es «mehrere Hunderttausend Franken» für eine einzige Innovation, sagt Christoph Zweifel.
Gegen einen bösen Verdacht kämpfen Snackfirmen wie Zweifel, seit sie Chips auf den Markt bringen. Irgendeine mysteriöse Geheimzutat müssen die Hersteller unter die Gewürze mischen, damit geschieht, was immer geschieht, wenn wir einen Snacksack öffnen: Wir können nicht mehr aufhören zu essen, bis er leer ist. Hedonische Hyperphagie heisst der Fachbegriff, wenn wir beim Knabbern die Kontrolle verlieren und mehr von einem Lebensmittel zu uns nehmen, als uns guttut. Christoph Zweifel hat schon oft gehört, dass Firmen wie seine daran schuld sein sollen. Aber in den Chips ist nichts Unheimliches versteckt. Die Wahrheit ist viel unspektakulärer. Wissenschafter der Universität Erlangen haben sie im Jahr 2015 entdeckt.
In Tierversuchen fütterten sie Ratten mit Chips und fanden dabei heraus, dass sie vor allem Lebensmittel mögen, die ein bestimmtes Verhältnis zwischen Fett und Kohlenhydraten aufweisen. Bei der Mischung 35 : 45 assen sie einen Drittel mehr als üblich. Genau diese Suchtformel findet sich auch in Chips.
Drei Jahre später gingen die Forscher einen Schritt weiter und führten ein Experiment mit 17 Menschen durch. Sie setzten ihnen zuerst Chips vor, drei Tage später Zucchini. Nach dem Imbiss durchleuchteten sie die Köpfe der Teilnehmer mit einer Kernspintomographie. Als sie Zucchini assen, passierte nichts. Wenn sie aber Chips verzehrten, war die Reaktion im Belohnungszentrum des Gehirns stark, und die Probanden wurden mit dem Glückshormon Dopamin überschüttet. Die Folge: Die Testesser wollten mehr von diesem Gefühl und griffen immer wieder in den Chipssack.
Das wäre nicht weiter schlimm, wenn Kartoffelchips nicht ein grosses Problem hätten: Sie enthalten zu viele Kalorien, zu viel Fett, zu viel Salz. In einer 2011 veröffentlichten Studie in der Fachzeitschrift «New England Journal of Medicine» steht, dass Chips die Lebensmittel sind, die am stärksten für die Gewichtszunahme verantwortlich sind. Das fanden Forscher heraus, nachdem sie während 20 Jahren 120000 Personen begleitet und nach den grössten Dickmachern gefahndet hatten.
In den 1960er Jahren galten Chips noch als unschuldig. Damals bewilligte das amerikanische Landwirtschaftsministerium zum Beispiel ein Werbeposter, auf dem ein Kind neben einem Lehrer sitzt. Der Lehrer isst einen Apfel, der Bub Kartoffelchips. Unter dem Bild stand: «Lasst den Lehrern ihre Äpfel und den Kids ihre Chips.» Zur gleichen Zeit warb eine amerikanische Chipsfirma mit dem Slogan: «Wetten, dass du nicht nur einen essen kannst?» Das Suchtpotenzial eines Chips wurde noch als Verkaufsargument verstanden.
Erst 1972 prägte der amerikanische Lebensmittelwissenschafter Michael Jacobson den Begriff Junkfood und erwähnte dabei auch Kartoffelchips. Als wenige Jahre später der Ernährungsberater des US-Präsidenten Richard Nixon Chips öffentlich kritisierte, war es um den Ruf der frittierten Scheiben geschehen.
Seit den späten 2000er Jahren ist gesundheitsbewusste Ernährung einer der wichtigsten Megatrends in der Lebensmittelindustrie. In neusten Umfragen aus den USA und Europa geben zwischen 70 und 90 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten an, sie achteten mehr auf ihre Ernährung als früher. Ob sie sich im Supermarkt auch immer daran erinnern, ist eine andere Frage. Die Firma Zweifel bereitet sich schon länger auf das veränderte Essverhalten vor. Die wichtigste Erfindung in diesem Bereich ist der Snack Vaya, der aus Bohnen und Kichererbsen besteht und 40 Prozent weniger Fett enthält als andere Chips. Er trage einen «überschaubaren, kleinen Anteil» am Firmenumsatz bei, sagt Christoph Zweifel.
Der Trend nach gesünderen Snacks nennt sich in der Branche «Better for you» und ist aus Amerika in die Schweiz geschwappt. Um keine Modeströmung zu verpassen, reisen die Produkteentwickler von Zweifel jedes Jahr ein Dutzend Mal ins Ausland, in die Vereinigten Staaten, nach Asien und in europäische Länder. Dann kommen sie mit Koffern voller Snacks und Ideen zurück, die andere schon vor ihnen hatten. Wer auf Reisen war, muss nachher einen zehnseitigen Bericht schreiben und zu einer Sitzung einladen. Dort werden die Chips probiert und man diskutiert, was man sich abschauen könnte.
Zweifel liess sich schon immer von Konkurrenten inspirieren. Dabei schreckte der Unternehmensgründer Hansheinrich Zweifel auch vor Werkspionage nicht zurück. Wenige Jahre nach dem Firmenstart schlich er sich auf das Gelände des italienischen Konkurrenzbetriebs Pavesi im Tessin, zog sich an einem Fensterrahmen hoch, schaute in die Fabrikhalle und erfuhr so, dass das Unternehmen etwas Bahnbrechendes plante: einen Frischeservice. Pavesi hatte vor, seine Chips einmal in der Woche gratis aus den Regalen der Läden zu nehmen und mit frischen zu ersetzen. Hansheinrich Zweifel war schneller. Zweifels Frischservice ist bis heute eines der Erfolgsgeheimnisse der Firma. Früher wurde aus alten Chips Schweinefutter, heute Biogas – oder sie werden für wohltätige Zwecke gespendet.
Dem Patron Hansheinrich Zweifel war jedes Mittel recht, um sich gegen ausländische Firmen zu wehren. Als Pringles mit Dosenchips in die Schweiz drängte, kopierte er diese und nannte sie Poppit’s – mit dem Slogan «Pop it» warb Pringles selber für seine Chips. Und als andere Hersteller Sparpackungen auf den Markt brachten und ein Mitarbeiter von Zweifel seinen Chef warnte, die Idee einfach abzukupfern, sagte er nur: «Das ist mir schnurzegal.» Im Buch «Chipsgeschichten» schreibt Hansheinrich Zweifel: «Natürlich gebe ich zu, dass unsere Geschäftsmethoden zuweilen unkonventionell waren (…). Ob dieses Vorgehen rechtlich lupenrein war, weiss ich nicht.» Heute würde man wegen solcher Praktiken vermutlich vor Gericht gezerrt. Aber Christoph Zweifel sagt, die Zeit des reinen Abkupferns sei schon lange vorbei.
Das erfolgreichste Produkt der vergangenen Jahre, Poulet im Chörbli, ist sowieso unverdächtig. Auf die Idee der Nostalgieessen kamen sie bei Zweifel ganz allein. Die Experten hatten auch an Wurst-Käse-Salat, Zürigeschnetzeltem oder Ghacktem mit Hörnli herumstudiert. Und was kommt als Nächstes? Eine neue Idee steckt schon in der Pipeline. Verraten wird sie nicht, Betriebsgeheimnis.
Dieser Artikel stammt aus dem NZZ-Folio zum Thema «Wir Konsumenten» (erscheint am 6. November 2023). Sie können diese Ausgabe einzeln bestellen oder NZZ Folio abonnieren.
Author: Cindy Cox
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